Tränen lügen nicht
Die Leiden des jungen Senfmüllers
Wie sang (und singt) Michael Holm doch gleich so schön? „Tränen lügen nicht“. Recht hat er. Gäbe es die offizielle suche nach einer Hymne oder einem Zunftlied für das Senfmüller-Handwerk, dann würde ich für diesen Schlager plädieren. Denn wenn es beim Senfmachen – speziell bei den Nassmahlgängen – nicht richtig in den Augen (und in der Nase) brennt, dann taugt entweder die Rezeptur oder die verwendete Senfsaat nichts.
Ich weiß nicht, ob in Robert Lembkes beliebter Fernsehsendung „Was bin ich“ (1955–1989) mal ein Senfmüller eingeladen wurde. Seine typische Handbewegung am Anfang des heiteren Beruferatens wäre wohl gewesen: Sich die Tränen aus den Augen zu reiben. Ob’s Hans oder Guido erraten hätten? Soll heißen, ein Senfmüller muss durchaus zum Schmerz bereit sein, ohne freilich gleich wie der junge Werther den Freitod zu wählen.
Wie ist es sonst zu erklären, das es noch kein weltweit organisiertes Netzwerk leidender Hersteller von scharfen Pasten gibt? Wie wäre es mit: „Streikende Senfmüller im Burgund“? Fehlanzeige. Eine vom Betriebsrat und der Gewerkschaft organisierte Sitzblockade vor einer Düsseldorfer Senfmühle? Gab es noch nicht. „Protestierende Chilisaucen-Brauer bei Tabasco auf Avery Island“? Achselzucken. Oder: „Brodelnde Stimmung und Sprechchöre in Bautzen“? Geschenkt.
eulich kam nun mein Bruder mit der Ansage: „Ich habe da noch ’n Lüfter liegen. Friedensware“. Gesagt, getan. Es wurde ein 60 Zentimeter Durchmesser großes Loch in die (bis dahin fensterlose) Senfwerkstatt gestemmt und eine Be- und Entlüftungsanlage eingebaut. So komme ich nun – zumindest etwas – in die Nähe eines „normalen“ Berufsbildes und nähere mich den Empfehlungen der Menschenrechtsorganisationen in Europa an. Große Freude, die Tränen werden bald weniger. Einen Wunschzettel für die Bescherung am Heiligen Abend brauche ich jetzt nicht mehr. Weihnachten kann kommen.