Aus dem Reich der Senfmühle
Spur der Steine
Nun wird Georgsenf also steinvermahlen. Genau gesagt auf der Rekonstruktion eines traditionellen Senfmahlwerkes mittels zweier Basaltlava-Steine. Seit mehreren Jahren schon auf der Suche nach einem historischen Senf-Mahlwerk, bekomme ich nun einen Brief von einem der letzten handwerklich arbeitenden Mühlenbauer in Deutschland.
Er stammt aus dem Erzgebirge und restauriert in mühevoller Kleinarbeit u.a. Wind- und Wassermühlen. Zum Berufsbild des traditionellen Mühlenbauers gehört das Bearbeiten von Holz, Metall und Stein. Es werden ganze Mühlräder aus Holz berechnet, gebaut und vor Ort justiert. Einige kleine Betriebe beschäftigen sich noch mit der Restauration von Getreide‑, Öl‑, Hammeroder Sägemühlen. Dass jedoch ein Mühlenbauer, ausgestattet mit dem Können, ein Nassmahlwerk herzustellen, den Weg in die hallesche Senfmühle findet, daran hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht gedacht.
Beim historischen Nass-Mahlgang – man spricht auch vom Kaltmahlverfahren – wird die (Senf)Maische zwischen zwei flach aufeinanderliegenden Steinen in der Regel zwei bis drei Mal vermahlen. Wobei „aufeinanderliegend“ nicht ganz korrekt formuliert ist. Der untere der beiden horizontal angeordneten Steine, der Bodenstein, ist mit der Stahlkonstruktion verankert. In seiner zentralen Bohrung ist eine runde Eisenachse senkrecht drehbar gelagert, das sogenannte Mühleisen. Auf seinem oberen Ende sitzt ein rechteckiges Eisenstück quer, die Haue. Sie greift als Mitnehmer in den oberen Mühlstein, den Läufer, ein und versetzt ihn in Drehbewegung. Die in die Mittelbohrung des Läufersteines eingebrachte Senfmaische wird nun zwischen den Steinen vermahlen und gerät mittels Fliehkraft nach außen an den Rand der Steine. Dabei liegen die Steine nie ganz auf, sonst würde Wärme und ein zu großer Abrieb entstehen. Zusätzlich sind noch Furchen in die Steine gehauen, durch die die Maische läuft. Sie sorgen zusätzlich für Belüftung des Mahlgutes. Eine Einfassung, die Zarge, lässt dem Senf nur an einer Stelle einen Auslass zum Senf-Fass offen.
Nun wird der ganze Mahlvorgang mindestens ein Mal wiederholt, bevor es zum nächsten Arbeitsschritt, dem Entlüften geht. Vorher muss der Läuferstein noch durch einen Kran hochgehoben und gedreht werden, damit beide gesäubert und gegebenenfalls nachgeschärft werden können. In unserem Fall handelt es sich um Basaltlava- Steine von jeweils einer halben Tonne Eigengewicht und knapp einem Meter Durchmesser. Wobei wir beim nächsten fast verschwundenen Handwerk sind, dem Beruf des Mühlsteinbauers. Das besonders harte, grau-blaue Lavagestein wird in den Grubenfeldern von Mayen in der Eifel abgebaut. Durch vulkanische Aktivitäten porös geworden, hat es kleine Löcher, die mit ihren scharfen Rändern auf der gesamten Oberfläche verteilt sind.
Die Arbeit des Natursteinmühlenbauers beginnt bereits beim Aussuchen des Rohmaterials im Steinbruch. Hier werden die Steinplatten schon mal grob der Stärke nach zugeschnitten. In der Werkstatt wird mittels einer Schablone die gewünschte Kreis form samt Bohrung vorgezeichnet. Mit einer riesigen Diamant- Steinsäge werden nun die Ecken immer wieder abgesägt, bis der Stein später von Hand aufwändig gerundet werden kann. Der Mahlstein hat jetzt fast sein eigentliches Aussehen erlangt, bis auf das Auge, die Bohrung in der Mitte des Steines. Und wieder setzt sich ein Koloss aus Stahl in Bewegung. Ein Präzisionsbohrer arbeitet sich Millimeter für Millimeter in das harte Gestein vor. Sie ahnen vermutlich bereits, dass diese Arbeiten nichts für sensible Feingeister mit hyperempfindlichen Ohren sind. Als letzter Arbeitsgang folgt schließlich das Schränzen. Bei diesem Vorgang haut der Mühlsteinbauer mit der Bille die schräg von der Mitte verlaufenden Mahlfurchen in den Stein.
Nicht fürs Museum
Durchaus legitim wäre jetzt natürlich die Frage: Warum der ganze Aufwand? Versucht hier vielleicht jemand, sich im Namen des Althergebrachten einen Namen zu machen? Eine museale Arbeitsweise, quasi als Selbstzweck? Doch allein in der Qualität des Endproduktes- in unserem Fall Senf ist der Grund zu suchen. Schauen wir etwas zurück: In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts lösten moderne Korund- Steinmühlen die traditionellen Mahlwerke ab. Durch die Industriealisierung der Produktion mussten die kleinen regionalen Senfmühlen schließen. Mit den Senfmüllern verschwanden nun (mangels Arbeit) die Mühlenbauer und schließlich die Mühlsteinbauer. Nicht etwa, dass die Mühlen schlecht vermahlen hätten, im Gegenteil.
Die Gründe für die Umstellung sind allein auf der rationellen, quantitativen Ebene zu suchen: Die alten Mühlen mahlten einfach nicht schnell genug. Obwohl sie viel schonender (und ruhiger) arbeiteten, passten sie mit ihren großen behäbigen Natursteinen nicht mehr in die Zeit. Durch die neuen industriellen Mahlwerke konnte man gleich mehrere, aufwändige Arbeitsgänge und somit Arbeitskräfte einsparen. Ich möchte an dieser Stelle nur eine Folge dieser rein rationellen Kostenrechnung nennen: Durch hohen Druck und hohe Drehzahlen entsteht Reibungshitze, die letztendlich dem Endprodukt Senf schadet. Der Getreidemüller spricht hier auch vom Totmahlen. Parallelen lassen sich natürlich zu fast allen Wirtschaftszweigen ziehen. Es geht jedoch immer um Stück- bzw. Verkaufszahlen und die zu erzielende Marge. Auch im aktuellen Grundtenor des Zeitgeistes hat sich die Ansicht verfestigt, dass ein Produkt oder eine Technologie, nur weil sie im hier und jetzt gerade angepriesen wird, die bessere sei.
Zwei Beispiele aus dem privaten Konsum: Beschichtete Aluminium- Bratpfannen lösten die gute alte Eisenpfanne ab, obwohl diese die besseren Brateigenschaften hatte, fast endlos haltbar und noch dazu preiswert war. Oder: In fast jedem Haushalt drehte sich noch vor wenigen Jahren ein Plattenspieler. Die Schallplatte wurde von der (billiger zu produzierenden) CD verdrängt, diese wiederum wurde vom MP3-Format ersetzt. Doch wo ist der Klang? Ein Hörvergleich zwischen den Geräuschen eines datenreduzierten MP3-Players und dem Hörerlebnis eines (High End) Plattenlaufwerks offenbart relativ schnell die klanglich haushohe Überlegenheit der alten analogen Technik.
Trotzdem: Gekauft wird, was großflächig beworben wird. Neue Technologien werden sogar von höchster Stelle verherrlicht, egal wie unsozial sie auch sind. Dabei ist vor allem die Furcht, mit der rasanten technologischen Entwicklung nicht mehr Schritt zu halten, flankiert von Ängsten angesichts der permanenten globalen Krisen, das Grundgefühl unserer Tage. Nun bleibt die Frage: Wohin wird uns diese Reise noch bringen, und was ist zu tun? Darauf habe ich natürlich auch keine passende Antwort. Bevor ich jedoch noch weiter abdrifte und grübele, gehe ich lieber zurück in die Senf-Werkstatt, zu meinen, Sie ahnen es bereits, Steinen.