Senfmüllers Buchtipp #01
Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust
Warum ist Landschaft schön? — Die Spaziergangswissenschaft
Mit Texten von Lucius Burchard / herausgegeben vom Martin Schmitz Verlag/ Lucius Burchard begründete in den 1980er Jahren die Spaziergangswissenschaft. Dieses neue Fach entwickelte er zu einer komplexen und weitblickenden Planungs- und Gestaltungswissenschaft. Die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie ist der Ausgangspunkt für eine realistische Haltung zur Wahrnehmung und Wirklichkeit, für ein anderes Verständnis von Landschaft und urbanem Raum, sowie eine neue Architektur und Planung.
Wer also von Ihnen des öfteren einen Spaziergang in der Stadt, auf dem Land oder von der Stadt aufs Land unternimmt, sich für die Ästhetik von Kulturlandschaft interessiert und sich hin und wieder Gedanken über die Veränderung der Landschaft und des urbanen Raumes macht, dem sei diese interessante Lektüre sehr empfohlen.
Hier ein paar Auszüge:
Kulturlandschaft ist die Landschaft, in die man zu spät kommt, deren Reiz darin besteht, dass man darin gerade noch lesen kann, wie es einmal war; Und wie es einmal war, das ist für uns so, wie es “eigentlich” sein müsste, also wie damals, als die Herren aus der Stadt kamen; auf dem Wege zur Jagd, die Bauern besichtigten: ” Glückliches Volk der Gefilde, noch nicht zur Freiheit erwachet”.
Nichts schmeichelt uns mehr als das, was ich die Ästhetik des Leoparden nenne ( Sie erinnern sich doch auch an die genussreiche Lektüre des Romans “Il Gattopardo- ” Der Leopard” des Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa ). Wenn wir uns aber genau fragen, was denn die Kulturlandschaft ausmacht, so erwischen wir uns selbst bei zweideutigen Antworten:
Wir vermischen Großmutters Bauernhof mit der Ewigkeit, und wir denken, dass gerade in unserer Generation untergegangene Ausbeutungszustand der Landschaft ihre Schönheit ausgemacht habe. Die starken Veränderungen, die wir selber, wenn wir ein gewisses Alter haben, miterlebt haben, erwecken bei uns den Eindruck, nur wir hätten eine solche Erfahrung gemacht. In der Tat habe ich selber Mühe, mir vorzustellen, dass eine frühere Generation jemals eine solche Wandlung erlebt habe wie ich, der in meiner Heimat den Übergang von der Selbstversorgungswirtschaft zur reinen Milchwirtschaft sah. Im Laufe von zehn Jahren waren die vielen kleinen Äckerchen, Gärtchen und Streuobstwiesen verschwunden zugunsten des grünen Endlosteppichs der Grasnarbe, die nun ihrerseits wohl für die jüngeren so aussieht, als sei das die ewige Agrarlandschaft gewesen, weil sie jetzt der Stallfütterung zum Opfer fällt. Nur ich ‚der Leopard, kann ihnen nachweisen, wie es hier “eigentlich” sein müsste. Nur ich der Leopard, kann auch noch die Zeiten sehen, an welchen die “richtige” Landschaft durch die vorhandene noch durchscheint: Einige ungepflegte Apfelbäume ließ der Bauer noch stehen, und da, wo er sein Gemüsefeld hatte, wachsen im Gras noch die Meerrettichblätter, und das Grundstück, zu dem der junge Bauer Kälberweide sagt, heißt eigentlich Rossweide.
Kann man also Kulturlandschaften erhalten? — Sicherlich nicht, wenn man nicht einmal genau weiß, worin sie bestehen.
Und diese Frage, worin sie bestehen, ist keine faktische oder historische, sondern eine ästhetische. Es ist die Frage, als was wir sie wahrnehmen…
Ich halte die Landschaft als ein Konstrukt der Wahrnehmung, das durch Vergleiche, also zeitlich durch die Diachronie, räumlich durch den Spaziergang entsteht. Ich verlasse die Stadt und erblicke das Land, der Osterspaziergang als das einfachste Beispiel, und ich erblicke das Land historisch und diachron als einen Ort in Wandlung, dessen eigentliches Aussehen ich aus Spuren in seinem gegenwärtigen Aussehen rekonstruiere: die Ästhetik des Leoparden. Deshalb glaube ich nicht an die Wirkung geretteter Beispiellandschaften, wenn wir diese ohne Weg und ohne Spuren der Entwicklung zu sehen bekommen. Hat die gerettete Heide einen Parkplatz? Hat der gerettete Urwald einen Parkplatz? Haben die Alpen einen Parkplatz? — Alle haben sie einen, aber was gibt es von diesem Parkplatz aus zu sehen? Unweigerlich erzählt der Besucher, nach Hause zurückgekehrt: Die Heide ist auch nicht mehr was sie einmal war. Die Kulturlandschaft als solche existiert also nicht. Sie ist immer ein Unterwegs, unterwegs von der Vergangenheit in die Zukunft und damit die Momentaufnahme der Gegenwart…
…Diese Zerstörung von Information manifestierte sich am stärksten in einer Bewegung, die viele Jahre durch die Dörfer zog und heißt: Unser Dorf soll schöner werden. Die Verschönerung dieser Dörfer geschah nach Schecklisten: das heißt also, dass Eigenarten verschwinden und Allgemeinheiten erzeugt werden. Ein Preisgericht wusste ganz genau, wie ein schönes Dorf aussieht: Der Dorfbrunnen ist stillgelegt, sein Becken ist mit Begonien und Geranien angepflanzt, darum herum ist ein Rasen, auf welchem zwei Bänke stehen. Der Rasen ist so perfekt, das kein Trampelpfad hin zu den Bänken geht; die Dorfbewohner und die zufälligen Besucher also wagen es nicht, sich auf diese Bänke zu setzen, weil sie ja den Anschein der Unbenutztheit ausstrahlen.
Trampelpfade überhaupt sind verpönt: Die Kinder können dadurch dem Gelände nicht mehr ansehen, ob das Betreten erlaubt ist oder verboten; vorsichtshalber betritt man es nicht mehr, mindestens nicht, wenn ein Erwachsener zuschaut. Natürlichkeit wird hier verstanden, als Tilgung menschlicher Spuren durch perfekte Begärtnerung. Die Zerstörung von Information betrifft auch ganze Touristikgebiete… Landschaft (1998)
… Viele dieser an Extrempunkten errichteten Hotels sind heute in der Krise, stehen leer, sind abgerissen oder dienen anderen Zwecken. Das neue Verkehrsmittel brachte eine neue Ästhetik. Das Auto ergab wieder die Illusion des Spaziergangs.
Wenn ich selber am Steuer sitze, kann ich doch schauen, wo es mir gefällt, kann anhalten, kann nach links, nach rechts ausschwenken und kann wieder die schönen Details der Landschaft aufsammeln, so dass sich mir das ganze Bild einer Region im Kopf zusammensetzt. Nur funktioniert das nicht. Beim klassischen Spaziergang verlasse ich die Stadt, ziehe durch die Felder, durchquere ein Dorf, komme auf einen Hügel, bewundere das Panorama, schwenke dann durch ein Flusstal auf einem anderen Weg zurück zu meiner Stadt. Zuhause angekommen, kann ich erzählen: So ist es — in der Wetterau, im Wienerwald, in den Vogesen, im Marnetal.
Mit dem Auto fahre ich los, und denke, ich möchte doch einmal das Burgund sehen, die Pyrenäen, die Toskana. Und was sehe ich? Autobahn, Großstädte, sogar Landschaftsteile, aber das Gesehene ist zu weit auseinander, ist zu disparat, als dass ich es als “typisch Burgund oder als “Toskana” dann zu Hause charakterisieren könnte. Traurig komme ich zu den Meinen und erkläre: “Auch das Burgund ist nicht mehr, was es war. Die Bewohner haben es kaputt gemacht.”
Fahren die jungen Leute überhaupt noch in diese Gegenden? Erscheinen sie noch auf den Plakaten der Reisebüros? Wo würden die Abiturienten hinfahren, wenn sie das Reiseziel selber wählen könnten? Immer höre ich: “Mich zieht es in die nordische Tundra” ” Mich zieht es in die Wüste.” ” Mich zieht es ans Eismeer.” Die heutige Tourismus — Landschaft der jüngeren Generation ist eine Extremlandschaft, die einerseits leicht zu benennen ist, die aber anderseits eine monotone Melancholie ausstrahlt.…
Foto: http://www.martin-schmitz-verlag.de/Lucius_Burckhardt/Buch.html